

Vom 19.01.2002 - REUTLINGEN/TÜBINGEN - Wie weit gehen die Sonderrechte der Feuerwehrleute im Straßenverkehr, wo haben sie ihre Grenzen? Die Staatsanwaltschaft Tübingen will Klarheit schaffen. Sie erhebt deshalb Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Reutlingen, das Anfang Dezember zwei junge Männer freigesprochen hatte, denen Bußgelder wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen auf der Fahrt zum Löscheinsatz drohten. Der Ausgang des Verfahrens, das jetzt ans Oberlandesgericht Stuttgart geht, wird wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung von Rettungsdiensten wie Behörden mit Spannung erwartet. Die Einsatzbereitschaft vor allem kleiner, ausschließlich mit Freiwilligen besetzter Feuerwehren ist wesentlich davon abhängig, wie schnell ihre Leute die Löschzüge bemannen und ausrücken können. Dürfen sie dabei im Straßenverkehr von vornherein Sonderrechte beanspruchen? Staatsanwaltschaft Tübingen und Stadt Reutlingen wollen ein Musterurteil. Die Straßenverkehrsordnung befreit »die Feuerwehr« (wie Polizei, Bundesgrenzschutz, Militär und Rettungsdienste) grundsätzlich von Regeln wie Tempolimits und der Wartepflicht an roten Ampeln, wenn sie zu Bränden oder Unfällen ausrückt und Eile »zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist« (Paragraph 35, Absatz 1 StVO). Umstritten ist in der Rechtsprechung aber: Gelten die Sonderrechte erst für die Fahrt im Einsatzwagen unter Martinshorn und Blaulicht - oder bereits, wenn die Feuerwehrleute von zu Hause oder vom Arbeitsplatz aus mit Privatauto, Motorrad oder Fahrrad ins Gerätehaus eilen? Rechtssicherheit »Wir wollen Rechtssicherheit schaffen«: So begründete schon im Dezember Reutlingens Ordnungsamtsleiter Reinhold Bantle, dass die Stadt nach zwei konkreten Tempo-Überschreitungen Bußgeldverfahren angestrengt hatte und sie nicht (wie früher üblich) gleich wieder einstellte, nachdem die Fahrer sich als Feuerwehrleute auf dem Weg zum Einsatz zu erkennen gegeben hatten. Ähnlich der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Hans Ellinger: Polizei, Bußgeldbehörden und Strafverfolgung fehle ein maßgebendes obergerichtliches Urteil für Baden-Württemberg. Die Meinungen unter Juristen seien auch in anderen Bundesländern geteilt, »die einen sagen hü, die anderen hott«. Um Klarheit zu schaffen, seien deshalb die beiden Reutlinger Fälle herausgegriffen worden und gingen nun, nach dem Freispruch aus der ersten Instanz, ans OLG Stuttgart. Dort wird sich der vierte Senat für Bußgeldsachen damit beschäftigen. Falls dieser die Problematik auf noch höherer Ebene geklärt wissen will, kann er den Musterprozess dem Bundesgerichtshof vorlegen. So oder so werde die Entscheidung Konsequenzen haben, sagt Ellinger: Wenn das Oberlandesgericht den Freispruch bestätige, »dann sind wir froh« und die Behörden müssten derartige Verstöße mit Sicherheit nicht verfolgen. Falls Stuttgart die Bußgelder dagegen bestätige, dann müssten die Feuerwehren künftig ihr Handeln bei Alarmierung und Anfahrt »kritischer sehen«. Der Reutlinger Amtsrichter Eberhard Hausch hatte bei der ersten Verhandlung am 6. Dezember keine Zweifel: Schon die Fahrt zum Sammelpunkt müsse unter die Sonderregelung fallen, wenn es um einen Ernstfall geht und »wirklich Gefahr im Verzug ist«. Denn wäre es anders, würde das Funktionieren des ehrenamtlichen Lösch- und Rettungswesen infrage gestellt, urteilte der Reutlinger Jurist (vergl. GEA vom 8. Dezember). Dienst vom Alarm an Hausch verwarf deshalb auf Antrag der Verteidiger Peter Jäcksch und Roland Hallatschek (beide Reutlingen) die Bußgeldbescheide gegen einen 25-jährigen Pfullinger und einen 21-jährigen Kirchentellinsfurter, die im Stadtgebiet Reutlingen geblitzt worden waren, als sie nach dem Funkalarm so schnell wie möglich zum Magazin wollten. Im einen Fall hatte ein Supermarkt einen Brand gemeldet, im anderen eine Fabrik. Der Kirchentellinsfurter war mit 160 statt erlaubten 100 Sachen an einer Messstelle am Betzinger Knoten vorbei geflitzt, der Pfullinger mit deutlich über 70 an einem »Starenkasten« in Rommelsbach, wo Tempo 50 gilt. Beim Freispruch der beiden wies Richter Hausch ausdrücklich darauf hin, dass keiner im Katastrophenschutz einen »Freibrief« besitze, rücksichtslos zu rasen; jeder dürfe die Sonderrechte »nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« ausüben. Dies sei in beiden Fällen geschehen und niemand gefährdet worden, die betroffenen Feuerwehr-Freiwilligen hätten ihren Verantwortungsspielraum nicht überzogen. In der inzwischen schriftlich vorliegenden Urteilsbegründung bekräftigt der Reutlinger Richter seine Auffassung, dass »spätestens mit erfolgter Alarmierung« (über Funk unter Umständen also auch in zehn oder zwanzig Kilometer Entfernung vom Stützpunkt) ein Feuerwehrmann »seine ihm verliehenen Aufgaben hoheitlicher Gewalt wahrzunehmen hat« und damit »als »die Feuerwehr« anzusehen ist«, betont Hausch und verweist auf das Landesfeuerwehrgesetz. Im Falle eines Brandalarmes sei auf dem Weg zum Feuerwehrhaus also »dieselbe höchste Eile verlangt« wie anschließend beim Ausrücken des Löschzuges zum Einsatzort: »Dem Opfer eines Brandes könnte schwer erklärt werden, dass sich seine Rettung nur deshalb verzögert habe, weil die Angehörigen der Feuerwehr auf dem Weg zum Feuerwehrhaus - das womöglich noch innerorts in einer 30-km/h-Zone liegt - zunächst nicht hätten schneller fahren dürfen.« Unterlassene Hilfe? »Im Extremfall«, heißt es in Hauschs Urteil wörtlich, »würde das sonst bedeuten, dass nachts an einer beampelten, völlig leeren und ganz übersichtlichen Kreuzung ein Feuerwehrangehöriger bei Rotlicht erst einen mehrminütigen Ampelphasenumlauf abwarten müsste, bis er weiter zur Brandwache fahren dürfte.« Mehr noch: Hausch sieht die Feuerwehren in Gefahr, sie könnten Vorwürfe und Schadensersatzklagen bekommen, wenn sie durch »zögerliches Verhalten« riskierten, dass sich die Folgen eines Brandes oder Unglückes unkontrolliert ausweiteten - zum Schaden für Menschen, Umwelt und Sachwerte.
Dieser Artikel wurde original aus dem/der Reutlinger General-Anzeiger entnommen,